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Archiv-Artikel

Am 8. Tag erschuf Gott Totti

Mit dem großartigen, irrealen Psychospiel Italien – USA ist das Ende der Vorhersagbarkeit da. Nun kann das Turnier ein großes werden. Und Italien? Muss den Furz im Kopf wieder loswerden

VON KLAUS THEWELEIT

Und am 8. Tag erschuf Gott Totti

Italienisches Transparent

Es ist Sonntagmorgen sechs Uhr. Vor dem Fenster schreien die Vögel, Spatzen, Amseln, die grässlichen Krähen. Sie bekrächzen das grottenschlechte Italien, 1:1 gegen die USA, hämisch und fassungslos. Die Titanic! Beinah zerschellt am Eisblock Amerika.

Nicht an Brazil oder Argentina, nein, Nordamerika, die Soccer-Zwerge von Bruce Arena. Es hat drei Platzverweise gegeben, den ersten gegen De Rossi, Italien nur noch mit zehn Mann. Lippi reagiert, nimmt Totti runter und bringt den defensiven Gattuso. Mit irrealem Effekt: Gattusos erste Aktion auf dem Feld, ein eher beiläufiger Fern-Fern-Schuss, landet in Kellers Kasten. Schiedsrichter Larrionda aus Uruguay, als wäre Gattusos Unabsichtlichkeit ein Argument, erkennt das Tor nicht an: passives Abseits. Aber der italienische Spieler vorn hatte weder eingegriffen noch Keller irritiert. Ein klares Tor. Bei allen drei Platzverweisen lag Larrionda richtig. Bei Gattusos Tor ist er blind. Als wolle er sagen: „Gilt nicht. Du bist noch gar nicht auf dem Platz.“ Und übrigens: „Was fällt dir ein. Dies Spiel bekommt keinen Sieger. Wenigstens eine Gruppe muss ein bisschen spannend bleiben.“

Dies ist ein anderes Spiel als die bisherigen. Dies ist das erste Psycho-Spiel dieser WM. Neun US-Boys führen zehn Italiener vor. Lippi steht ratlos und sieht einen Albtraum. Den Traum, den er geträumt hat die Nacht zuvor: dass man gegen die Amis gar nicht erst auflaufen muss. Man hat schon gewonnen.

Abhaken, vom Feld gehen. Diese US-Typen da verloren 0:3 gegen die Tschechen, chancenlos. Die, das hatte man nun gerade nachmittags gesehen, 0:2 entzaubert wurden von den Jungs aus Ghana; welche man selbst ja lässig mit 2:0 ins Hotel zurückgeschickt hatte. Es hätte auch 6:0 heißen können für Ghana gegen die Tschechen.

Daran konnte man ja sehen, wie gut Italien beim eigenen 2:0 über Ghana gewesen sein musste. Supergut. Dies alles zusammen ergab in den Seelen aller Italiener ein klar gefühltes 4:0 gegen Bruce Arenas US-Boys. Mindestens! Wozu noch spielen? Gilardinos 1:0, zack, zack!, der Rest würde folgen. Ergebt euch den Blauen. Die USA sitzen doch schon in ihrem Aeroplane! My Baby, she wrote me a letter.

Pustekuchen. Die Amis schossen ein Tor. Nein, sie schossen keins. Es war ein Traumtor, geschossen von den Italienern gegen sich selber. Ein denkwürdiger Querschläger, von Zaccardo nach einer harmlosen Hereingabe von der Seitenlinie unbedrängt ins eigene Tor querschlags gehämmert – Lippis Albtraum bezwirbelte sein Hirn. Und eine Minute später ist de Rossi vom Feld.

Das totale Paradox: Ab hier, zusätzlich gestärkt durch zwei Platzverweise gegen sie, spielen fast nur noch die Amerikaner. ZDF-Experte Jürgen Klopp an seiner Demo-Tafel nach dem Spiel zeigt, wie die zahlenmäßig überlegenen Italiener ihre Überzahl konsequent nicht nutzten, indem sie mit 5:1 Mann gegen das angreifende Amerika hinten drinstanden.

Wobei er vergaß zu bemerken, dass von diesen fünf Italienern kein einziger daran dachte, den ballführenden Ami anzugreifen. Sie wichen nur taktisch gekonnt zurück. Sie mussten ja nicht spielen, hatten längst gewonnen. Im Traum. Im Kopf.

Ha, Gruppensieger! Danke! Brasilien aus dem Weg gegangen! Und nun das. Mit 10:9 Mann gegen die USA (die ja schon im Flieger sitzen) auf dem Platz, und man bekommt kaum einen Spielzug hin, der auch nur entfernt ein Tor verspricht. „Die Spieler denken nicht an die Tabellensituation. Sie wollen rausgehn und das aktuelle Spiel spielen“ – ein Fachmann vor dem Spiel. Quatsch. Die Italiener hier denken nur an die Tabellensituation. Und führen also vor, wie der Furz, den sie im Kopf haben, elf Weltklasseleute daran hindert, Fußball zu spielen.

Die US-Boys, angetreten in Schwarz-Weiß, den traditionellen Farben der flaschigen Deutschen, rennen jedem Italiener weg, stoßen in die freien Räume, die sich wundersam überall auftun, Marcello Lippi steht in der Coaching Zone, in der es nichts mehr zu coachen gibt. Es ist allein die Gnade McBrides, der die ihm aufgelegten Tore nicht vollstreckt, dass Italien nicht geschlagen vom Platz geht.

Ein einziger italienischer Spieler bleibt unbeschadet vom Traumdebakel: Francesco Totti. Weil Lippi ihn nach de Rossis Platzverweis aus dem Spiel genommen hat. Alles in Blau fiel in Traumstarre danach. Alles total gespenstisch hier.

Wo sind wir? WM 2006? In Kaiserslautern, Deutschland? Hitze wie in Arizona. Oder sind wir in Neapel, beim Gericht. Zwangsabgestiegen. Ja, genau so spielen sie. Drei Klassen zwangsversetzt nach unten.

Totti auf der Bank träumt. Er ist Dornröschen. Und seine zehn Prinzen auf dem Feld suchen nach ihm hinter der falschen Hecke. Irgendwie logisch, dass der Schiri Gattusos Tor nicht gab. Es gehört nicht in dieses Spiel. Ein reales Tor in einem Geisterspiel.

Steve Cherundolo von Hannover 96, Bundesligadurchschnitt, spielt Thierry Henry zwischen Italiens regungslosen Deckungsstangen. Zambrotta? Nesta? Quatsch, das ist ein Abruzzenclub, dessen Namen niemand kennt. Luca Toni? Ja, da kam der her.

Heute nun ist Montag. Die Blauen haben zweimal ausgeschlafen, erschöpft und traumlos. Gegen Tschechien müssen sie kämpfen. Nicht nur um den Gruppensieg, sondern ums Weiterkommen. Verlieren sie und Ghana schlägt die US-Boys, ist Italien draußen. Im Flieger back home.

Tipp: Ein afrikanisches Land erleben wir wohl doch im Achtelfinale. Aber seit Samstag 22.45 Uhr hat dieses Turnier seine Surprise-Dimension. Eingetreten in die Traumwelt, die aus Turnieren erst große macht: durch die Entmachtung der vorhersehenden Experten, die aus ihrem Paradies des Vorhersagbaren vertrieben sind. Dank also an den Fußballgott, der sich zurückgemeldet hat in angemessener Gestalt; als Vertreiber aus Eden, als böser Gott, dem schließlich auch die Sintflut (für die Vorhersager) zuzutrauen ist.

We’ll see.

Ich träume und bete: Bringe er uns keinen Nowotny. Zaubere er uns einen Huth aus dem Hut. Und führe er uns gegen Ikeas Blau-Gelbe. Später dann gegen die hellblauen 6:0-Zebras aus Argentinien: da helfe Samuel (d. i. der Schiedsrichter) und ein weiterer Hexer, der Maradonas Hemdenschwenken auf der Tribüne stoppt. Der Mann generiert von da Tore!!

KLAUS THEWELEIT ist Kunstprofessor, Leitfigur der Post-68er und Autor des Fußballklassikers „Tor zur Welt“. Er gehört zum WM-Analyse-Team der taz. Theweleit freut sich auf Argentinien – Niederlande und Italien – Tschechien